Denjenigen unter euch, die in der queeren Szene in Leipzig unterwegs sind, dürfte dabei immer wieder etwas auffallen: Kann es sein, dass gefühlt fast jede:r von ADHS, Autismus oder auch beidem (von manchen liebevoll AuDHD genannt) betroffen ist? Stimmt es vielleicht doch, dass neurodivergent zu sein “schick” geworden ist - alle holen sich jetzt die neuen “Modediagnosen”?
Vom Unsinn solcher Kritik an der derzeitigen Diagnosewelle einmal abgesehen (schließlich wird aktuell nur nachgeholt, was über Jahrzehnte versäumt wurde), ist die Beobachtung durchaus interessant. Und valide: Forschungsergebsnisse zeigen, dass Menschen mit Neurodivergenz mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit von den gesellschaftlichen Gender- und Sexualitätsnormen abweichen, also auf verschiedene Art und Weise queer sind.
Auffällige Korrelationen
So konnte eine 2021 im Magazin Autism Research veröffentlichte Studie darlegen, dass Teilnehmer:innen auf dem Autismusspektrum sich über sechsmal so häufig als asexuell identifizieren wie neurotypische Teilnehmer:innen, autistische Männer sind nahezu dreimal häufiger bisexuell und autistische Frauen dreimal häufiger homosexuell als die nicht-autistische Vergleichsgruppe. Insgesamt bezeichneten sich 63 Prozent der Teilnehmenden auf dem Autismusspektrum als heterosexuell im Vergleich zu 83 Prozent der neurotypischen Teilnehmenden. Und auch bei Personen mit ADHS zeigt sich in Untersuchungen, dass sie sich seltener als heterosexuell definieren als Befragte ohne ADHS.
Wenn es um Geschlechtsidentität geht, ergeben sich ebenfalls auffällige Korrelationen. In der renommierten Fachzeitschrift Nature erschien eine Studie, in welcher festgestellt wurde, dass Teilnehmende auf dem Transspektrum (also z.B. trans, nicht-binäre oder agender Personen) mit drei- bis sechsmal größerer Wahrscheinlichkeit auch autistisch waren als die cis-gender Gruppe. Bei bislang undiagnositzierten Personen erreichten solche, die transgender oder gender-divers waren, signifikant höhere Werte bei der Abfrage autistischer Merkmale und berichteten öfter, dass sie bei sich selbst Autismus vermuteten. In einer weiteren Untersuchung zeigte sich bei Menschen mit Autismus eine über siebenmal, bei Menschen mit ADHS eine über sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit einer Genderidentität außerhalb der Cis-Norm.
Die Gründe sind noch unklar
Die Gründe für diese offenkundigen Zusammenhänge zwischen Neurodivergenz und Queerness sind bislang noch wenig untersucht. In Artikeln aus der neuroqueeren Community wird eine These verbreitet und diskutiert, die durchaus sympathisch und schlüssig erscheint: Menschen mit Autismus und/oder ADHS machen oft die Erfahrung, dass sie mit sozialen Normen in Konflikt geraten. Sei es, dass sie mit ihrem Verhalten unabsichtlich anecken oder die Regeln der anderen schlicht für unsinnig halten - Vorgegebenes zu hinterfragen ist eine Eigenschaft, die neurodivergente Personen meist schon früh ausbilden, um ihr Umfeld besser verstehen und sich darin verorten zu können. Wieso dann nicht auch Geschlechter- und Sexualitätsnormen hinterfragen? Wenn ich mich schon irgendwie anders fühle, anders ticke, wieso sollte ich nicht auch in diesem Sinne queer sein?
Natürlich ist das Umgekehrte auch oft der Fall: Menschen, die sich bereits ihrer queeren Identität bewusst sind, entdecken schließlich, dass sie auch eine Neurodivergenz besitzen. Also besteht vielleicht doch ein neurologischer Zusammenhang? Auch wenn teils vorsichtig Anhaltspunkte für mögliche Erklärungsversuche auf biologischer Ebene geäußert werden, fehlen dafür derzeit leider noch die wissenschaftlichen Daten.
Belastung der Mehrfachmarginalisierung
Für Betroffene bedeutet neuroqueer zu sein in einer heteronormativen und auf neurotypische Vorstellungen ausgerichteten Gesellschaft immer auch eine Mehrfachmarginalisierung. Diskriminierung, Leistungs- und Konformitätsdruck gehören zu wichtigen Faktoren, wieso sowohl neurodivergente als auch queere Menschen überproportional oft an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen leiden - dieses Risiko dürfte sich nur erhöhen, wenn beides gleichzeitig vorliegt. Ein unterstützendes Umfeld, eine Community von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und gegebenenfalls professionelle therapeutische Begleitung sind deshalb notwendige Pfeiler, um die geistige Gesundheit von neuroqueeren Personen zu stärken.
Das ist nicht nur auf individueller Ebene wichtig; Neurodiversität und Queerness bereichern die Gesellschaft um unschätzbar wertvolle Perspektiven und machen die Welt bunter und interessanter. Und dabei geht es längst nicht nur um ein paar Farbkleckse im Grau der Normen: Neuroqueerness lehrt uns vielmehr, dass Normen lediglich ein Konstrukt sind, ein starres Werkzeug zur Komplexitätsreduktion. Wenn wir uns aber an die Komplexität heranwagen, wenn wir uns der eigenen Individualität mutig stellen und die der anderen ebenso mutig akzeptieren - welche Möglichkeiten warten auf alle von uns?
Quellen
Let’s Talk about Sex… and ADHD: Findings from an Anonymous Online Survey (S. Young et al.)
The sexual health, orientation, and activity of autistic adolescents and adults (E. Weir et al.)
Gender dysphoria and attention problems: possible clue for biological underpinnings (B. Yildirim)
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